Frage
Ideen zur Entwicklung Selbstkonzept bei schwerst mehrfachbehinderten Kind
eingestellt am: 12.04.2016, 08:41 Uhr
eingestellt von: Cathrin Gartmann
über den Autor: Zusatzqualifikation UK (ISAAC), Studierende, Humboldt Universtität Berlin
Beschreibung:
Hallo!
Ich wende mich heute hilfesuchend an dieses Forum, in der Hoffnung, gute tipps von euch zu erhalten. Es geht um einen 11-jährigen schwerstmehrfach behinderten Jungen (ICP, Tetraspastik, Epilepsie, Kommunikation nur über Mimik), den ich innerhalb meines UK-Praktikums kennengelernt habe und für den ich eine Diagnostik sowie eine Interventionsplanung durchführen durfte. Im Ergebnis stand, dass er sich auf der untersten Kommunikationsstufe befindet und zunächst das Selbstwirksamkeitsprinzip (er gibt so gut wie keine Laute von sich, macht nie auf sich aufmerksam und wird als "pflegeleicht" beschrieben) sowie das Ursache-Wirkungs-Prinzip angebahnt werden sollte. Zum zweitgenannten habe ich mit den Eltern schon einige Ideen entwickelt. Aber um sein Selbstkonzept zu entwickeln und zu lernen, auf sich aufmerksam zu machen (auch wenn er keine Schmerzen hat), fehlen uns Ideen.
Ich hoffe, ihr konntet euch trotz der eingeschränkten Informationen ein ungefähres Bild von dem Kind und seiner Problematik machen. Es wäre sehr hilfreich für mich und sein Umfeld, wenn ihr ein paar Ideen dazu hättet und sie mir mitteilen könntet.
Vielen herzlichen Dank im voraus und herzliche Grüße an alle,
Cathrin
(Rehapädagogik Studentin)
13.04.2016, 15:35 Uhr - Zu: Ideen zur Entwicklung Selbstkonzept bei schwerst mehrfachbehinderten Kind - Petra Hohenhaus-Thier
Zu: Ideen zur Entwicklung Selbstkonzept bei schwerst mehrfachbehinderten Kind
eingestellt am: 13.04.2016, 15:35 Uhr
eingestellt von: hohenhausthier
Kommentar:
Hallo,
Menschen, die so lange ohne das Bewusstsein der Selbstwirksamkeit gelebt haben (weil auch liebevolle Fürsorge und das "von den Augen ablesen" gut gemeint, aber nicht förderlch sind), brauchen manchmal sehr sehr lange, um "umzuschalten".
Neben den Klassikern der UK , die sicher bekannt sind (PowerLink, Taster > Musik, Blaulicht, Tiere, Bigmack und Gong, Bigmack und Ruf, sprechender Pinguin u.v.a.m.) gibt es aus dem Bereich der Ergotherapie noch einiges, was vorwärtsbringen könnte:
Petra Hohenhaus-Thier
Ergotherapeutin, UK-Kommunikationspädagogin
Informationen über den Autor:
Ergotherapeutin, St. Antoniushaus Wohnbereich für Menschen mit Behinderungen in Kiel
13.04.2016, 16:31 Uhr - Zu: Ideen zur Entwicklung Selbstkonzept bei schwerst mehrfachbehinderten Kind - Irene Leber
Zu: Ideen zur Entwicklung Selbstkonzept bei schwerst mehrfachbehinderten Kind
eingestellt am: 13.04.2016, 16:31 Uhr
eingestellt von: irene
Kommentar:
Liebe Cathrin,
gibt es irgendeine Reaktion auf das, was Ihr mit ihm so macht? könnt Ihr z. B. erkennen, was ihm gefällt und was nicht? Und woran?
Wenn ja, könnt Ihr zusammentragen, was er gerne mag ( z.B. aus den von Petra angeführten Angeboten) und woran man das erkennen kann. Das kann man mit mehreren Bezugspersonen festhalten und weiter ausprobieren: Was macht er, wenn das "Schöne" unterbrochen wird?
Bemerkt er Euch? Und wenn ja, in welchen Situationen? Vielleicht, wenn Ihr ihn imitiert? Da gibt es tolle Filme über "Intensive Interaction" von Dave Hewett in You Tube. Früher nannten wir das z.B. auch Protodialoge . So oder gibt es einige Kinder, die dann auf einmal realisieren, dass es andere Menschen gibt und sie diese beeinflussen können. Das Ziel wäre dann zunächst, dass der Junge Euch wahrnimmt, dann dass er auf Euch reagiert und dann dass Ihr in einen Dialog tretet.
Viel Erfolg und viele Grüße von Irene
Informationen über den Autor:
Cluks-Redaktionsmitglied, Sonderschulleh
13.04.2016, 18:54 Uhr - Zu: Ideen zur Entwicklung Selbstkonzept bei schwerst mehrfachbehinderten Kind - Birgit Hennig
Zu: Ideen zur Entwicklung Selbstkonzept bei schwerst mehrfachbehinderten Kind
eingestellt am: 13.04.2016, 18:54 Uhr
eingestellt von: BirgitHe.
Kommentar:
Hallo Cathrin,
ich empfehle das Buch "First things first":
Rowland, Ch. D. & Schweigert, Ph. (2004). First things first. Early Communication for the pre-symbolic child with severe disabilities. Oregon Health and Science University
Das ist zwar in Englisch, aber dort wird sehr kleinschrittig dargelegt, wie man einfache Kommunikationshilfen (BigMack/ sprechende Tasten) bei Kindern mit komplexen Beeinträchtigungen einführt und einsetzt, so dass das Kind beispielsweise die Kompetenz erlangt, die Aufmerksamkeit einer anderen Person einzufordern. Die drei Kompetenzen, die kapitelweise ausführlich besprochen werden heißen:
"I want more" ("noch mal!")
"Listen to me" (Aufmerksamkeit herstellen)
"That's what I want" (auswählen)
Außerdem gibt das Buch praxisnah Handreichungen zur Diagnostik und Förderplanung.
Gute Beispiele zu gegenständlicher Ursache & Wirkung und zu Intensive Interaction auch in folgender englischer Online-Fortbildung:
www.complexneeds.org.uk
Zu sozialen Interaktion auch empfehlenswert:
Sterkenburg, Paula (2013). Bindungsbeziehung entwickeln. Ein Arbeitsbuch für die Gestaltung einer engen Bindungsbeziehung mit Kindern oder Erwachsenen mit schwerer geistiger oder mehrfacher Behinderung. Doorn (NL): Bartimeus (Videobegleitmaterial ist in Englisch oder Deutsch erhältlich)
sowie:
Lee, Mary & MacWilliam, Lindi (2008). Learning Together. A creative approach to learning for children with multiple disabilities and a visual impairment. 2nd ed. (from Movement, gesture, sign) London: RNIB Education Information Service
Empfehlenswert zu den Basics der Kommunikationsentwicklung auch die anschaulische Booklet-Videoreihe " Communication and Congenital Deafblindness (jetzt auch in Deutsch als "Kommunikation und angeborene Taubblindheit" bei ed. Bentheim!)
"Pflegeleicht" ist bei der Schwere der Behinderung i.d.R ein Hinweis darauf, dass noch gar nicht so genau hingeschaut wurde, was denn Präferenzen, Abneigungen sind, wo Toleranzschwellen liegen etc. etc. bzw. die Differenzierungen so subtil sind, dass sie selbst von vertrauten Personen schlecht erkennbar sind. Wiederholte Kontingenzerfahrungen sind dann schwierig, weil die subtilen Signale - je nach Beobachtungsgabe der Assistenz oder der Kommunikationspartner im Alltag - vermutlich oft übersehen oder "verpasst" werden.
Wenn noch so gar nichts bekannt ist über das Kind macht es vielleicht auch Sinn, das - intuitiv/ unbewusst vermutlich doch irgendwie - vorhandene Erfahrungswissen der nächsten Bezugspersonen erst einmal/ noch einmal sorgfältig zusammenzutragen und zu dokumentieren. Eine gute Handreichung bietet dazu das "Persönliche Dialogbuch":
http://www.spastikerhilfe-berlin-eg.de/dialogbuch
Noch mehr Quellen und Praxisliteratur findest Du in der Literaturliste auf meiner homepage:
www.uni-oldenburg.de/fileadmin/user_upload/sonderpaedagogik/download/Ausfuehrliche_Liste_Mfb2012.pdf
Die letzte Aktualisierung auf der Homepage erfolgte 2012. Einige der hier benannten Quellen sind da noch gar nicht drauf. Es ist mal wieder ein Update erforderlich bzw. zeitnah in Planung ;-); also vielleicht in ein paar Wochen noch mal checken.
Viel Erfolg,
Birgit
Informationen über den Autor:
Schwerpunkte der Beratungstätitgkeit: er, wiss. Mitarbeiterin, Mitarbeiterin Beratungsstelle für UK des Ambulatoriums für , C.v.O. Uni Oldenburg
17.04.2016, 10:06 Uhr - Zu: Ideen zur Entwicklung Selbstkonzept bei schwerst mehrfachbehinderten Kind - Petra Wurdak
Zu: Ideen zur Entwicklung Selbstkonzept bei schwerst mehrfachbehinderten Kind
eingestellt am: 17.04.2016, 10:06 Uhr
eingestellt von: Wurdak
Kommentar:
Hallo Cathrin, ich habe deine Anfrage gelesen und interessiere mich sehr für dein Thema, da ich zur Zeit mit einem Schüler arbeite, der auf einer ähnlichen Stufe wie der von dir beschriebene ist. Jetzt hätte ich meinerseits eine Frage: Wie hast du die Diagnostik und Interventionsplanung durchgeführt? Welche Materialien und Diagnostikmittel hast du dabei angewandt?
Vielleicht gibt es dazu auch aus dem Forum Ideen?
Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mir dazu Informationen geben könntest - gern auch unter meiner Mailadresse: pewurnoSpam@web.de
Schon mal vielen Dank und herzliche Grüße, Petra
Informationen über den Autor:
Fachleiterin, Fachseminar für Sonderpädagogik Reutlingen
19.04.2016, 12:07 Uhr - Zu: Ideen zur Entwicklung Selbstkonzept bei schwerst mehrfachbehinderten Kind - Cathrin Gartmann
Zu: Ideen zur Entwicklung Selbstkonzept bei schwerst mehrfachbehinderten Kind
eingestellt am: 19.04.2016, 12:07 Uhr
eingestellt von: Cathrin
Kommentar:
Liebe Frau Hohenhaus-Thier,
vielen herzlichen Dank erst einmal für Ihre sehr umfangreiche Reaktion mit so vielen wertvollen Tipps und Ideen. Ich bin völlig begeistert... (an dieser Stelle sei auch diesem Forum und allen Mitwirkenden mein Dank und meine Anerkennung für dieses tolle Forum ausgesprochen!)
Bereits in ihrem ersten Satz erkenne ich "meinen" Fall sofort wieder. Genau das ist der springende Punkt und auch die schwierige Gratwanderung in der Arbeit mit den Eltern und dem schulischen Personal. Alle meinen zu wissen, was dem Jungen gut bzw. nicht gut tut (wobei die Eltern das noch eher glaubhaft einschätzen können) und jede zusätzliche kommunikationsanbahnende Aktivität wird eher kritisch betrachtet, da "es ihm doch gut gehe" und er sich nicht zusätzlich belasten soll (Bedeutet Kommunikation nicht auch Anstrengung/Arbeit mit dem entsprechenden tollen Erfolgserlebnis, wenn sie funktioniert?).Ich meine jedoch, und eventuell wage ich mit dieser These zu weit nach vorne, dass M. uns mehr zu sagen hat außer ein dankbares Lächeln als Reaktion auf eine angenehme Aktion.
Das Problem, das hier jedoch vorliegt, und das ist in meiner Fallvorstellung nicht deutlich geworden, ist, dass M. durch seine zusätzliche Spastik wirklich komplett motorisch eingeschränkt ist und wir bisher keine Möglichkeit gefunden haben zur Ansteuerung. Insofern kann ich Ihre tollen Ideen wie Materialien anstoßen, wegschubsen, heranziehen etc. ausklammern. Die Familie hat sich inzwischen einen Power Link und entsprechende Geräte besorgt, wir wollen versuchen, ob es ihm gelingt, mit dem Handgelenk eine bewusste Bewegung auszuführen.
Über das Thema "ärgern" mit dem Ziel eine ablehnende Reaktion zu provozieren, habe ich auch bereits intensiv nachgedacht, wobei das tatsächlich ein schwieriges Thema ist. Er zeigt so gut wie kein ablehnendes Verhalten, deshalb auch die Beschreibung "pflegeleicht". Bisher haben wir uns darauf geeinigt, dass wir angenehme Aktionen (z.B. Massage) unterbrechen wollen und seine Reaktion aufgreifen wollen. Alles andere kann ich schon aus ethischen Gründen, glaube ich, nicht vertreten.
Was ich auf jeden Fall spannend fand, ist die Idee mit der auditiven Verstärkung. Ich würde daher gern mehr über Lilli Nielsen erfahren und bin über weiterführende HInweise dankbar.
Vielen Dank nochmals für Ihre Bemühungen und liebe Grüße
Cathrin Gartmann
Informationen über den Autor:
Zusatzqualifikation UK (ISAAC), Studierende, Humboldt Universtität Berlin
19.04.2016, 12:28 Uhr - Zu: Ideen zur Entwicklung Selbstkonzept bei schwerst mehrfachbehinderten Kind - Cathrin Gartmann
Zu: Ideen zur Entwicklung Selbstkonzept bei schwerst mehrfachbehinderten Kind
eingestellt am: 19.04.2016, 12:28 Uhr
eingestellt von: Cathrin
Kommentar:
Liebe Frau Leber,
auch Ihnen gilt zunächst mein herzlichster Dank für Ihre Antwort.
Petras Angebote sind auf jeden Fall klasse Ideen, ich werde davon demnächst mit Sicherheit einiges ausprobieren. Allerdings sind wir auf Grund seiner motorischen Beeinträchtigung auf die auditiven und visuellen Reize beschränkt (siehe auch Kommentar zu Petras Anwort).
Die Idee von Ihnen, seine Vorlieben zusammenzutragen, finde ich gut, vor allem weil es, wie ich denke, wichtig ist, die "Daten" auch zu strukturieren und nicht wild drauf los zu testen. DAbei ist mir auch der Test von Rehavista ("Schau hin") eingefallen, den man ja auch leicht abändern könnte, indem man die gebotenen und geliebten Reize für kurze Zeit unterbricht..
Ihre angesprochene Methode "Intensive Interaction" hatten wir auch in einem Seminar kennengelernt- in jedem Fall eine sehr spannende Geschichte. Dazu muss ich (wenn die Eltern es wünschen) nur noch ein bisschen näher an M. herankommen, denke ich.
Das Realisieren von Objekten ist eher nicht das Problem. Ich denke, es ist tatsächlich das Reagieren bzw. das Beeinflussen von seinen Mitmenschen, was bei M. noch Entwicklungspotential hat..
Vielen Dank nochmals für Ihre Anregungen und liebe Grüße von
Cathrin Gartman
Informationen über den Autor:
Zusatzqualifikation UK (ISAAC), Studierende, Humboldt Universtität Berlin
19.04.2016, 12:33 Uhr - Zu: Ideen zur Entwicklung Selbstkonzept bei schwerst mehrfachbehinderten Kind - Cathrin Gartmann
Zu: Ideen zur Entwicklung Selbstkonzept bei schwerst mehrfachbehinderten Kind
eingestellt am: 19.04.2016, 12:33 Uhr
eingestellt von: Cathrin
Kommentar:
Vielen lieben Dank auch für diese tollen sehr hilfreichen Literaturtipps!
Ich danke allen für ihre Bemühungen (auch im Namen der Familie des Jungen!
Herzliche Grüße,
Cathrin
Informationen über den Autor:
Zusatzqualifikation UK (ISAAC), Studierende, Humboldt Universtität Berlin
19.04.2016, 15:03 Uhr - Zu: Ideen zur Entwicklung Selbstkonzept bei schwerst mehrfachbehinderten Kind - Petra Hohenhaus-Thier
Zu: Ideen zur Entwicklung Selbstkonzept bei schwerst mehrfachbehinderten Kind
eingestellt am: 19.04.2016, 15:03 Uhr
eingestellt von: hohenhausthier
Kommentar:
Vielen Dank für Lob und nette Kommentare!
Was bisher noch zu kurz kam, ist der Blick auf basale Reaktionen. Da Sie sicher bereits auf die Mimik achten und sie zu lesen versuchen, möchte ich zu Tonusregulation und vegetativen Reaktionen noch etwas sagen.
Bei der Arbeit mit Menschen mit schweren (CP-)Behinderungen sollten die pathologischen Reaktionsmuster bekannt sein (evtl. mit der Physiotherapie sprechen):
Viel Energie weiterhin!
Petra Hohenhaus-Thier
Informationen über den Autor:
Ergotherapeutin, St. Antoniushaus Wohnbereich für Menschen mit Behinderungen in Kiel